Einführendes Lektüreseminar zu Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“

Was nützt die Kultur dem Subjekt? Stellt sie den Individuen ausreichend Mittel zur Verfügung, um glücklich zu sein? Oder sind die auferlegten Versagungen, das psychische Leiden an der Kultur mehr, als der*die Einzelne* ertragen kann? Diese Fragen stellt Sigmund Freuds Text „Das Unbehagen in der Kultur“, in dem nicht Kunst oder Literatur, sondern das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen überhaupt, in seinen Gründen und Abgründen, zur Verhandlung steht.

Es war kein historischer Zufall, dass sich Freud ausgerechnet im Jahr 1930 diesen Fragen widmete: Der Faschismus in Italien, der Nationalsozialismus in Deutschland, der Austrofaschismus schließlich auch in Österreich, in dessen Hauptstadt der jüdische Arzt und Begründer der Psychoanalyse lebte, machten sich entschieden breit, während die Weltwirtschaftskrise ihre Verheerungen zeitigte. Wenige Jahre später würde das zur Durchsetzung kommen, was Theodor W. Adorno im Nachhinein als „Katastrophenpolitik“ beschrieb: an die Stelle von der Idee des eigenen Glücks war Gewalt, an die Stelle der Erhaltung des eigenen Lebens der Wunsch nach dem Tod getreten (vgl. „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“, 1955). Wie kommt eine Gesellschaft dahin, anstatt das Leben der Menschen untereinander für ihr Wohl zu gestalten, sich lieber einem entfesselten Vernichtungswillen hinzugeben?

In einer verlängerten Perspektive ist auch diese Frage in Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ indirekt mit enthalten. Er hatte bis zu seinem Erscheinen mit der Psychoanalyse eine Wissenschaft begründet, die in ihrer Triebtheorie und Neurosenlehre die libidinöse Verstrickung der Individuen in ihre unzulänglichen Lebensverhältnisse verstehen helfen kann. Mit dem „Unbehagen in der Kultur“ legte Freud schließlich eine kulturtheoretische Schrift vor, in der er den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft, von individuellen und Massenansprüchen, als ein widersprüchliches Konfliktverhältnis zeichnet.

Wir wollen euch einladen, in einem einführenden Lektüreseminar zu Sigmund Freuds „Unbehagen in der Kultur“ am 4. und 5. November 2023 uns gemeinsam mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, insbesondere mit der subjektiven Seite dieses Vermittlungs- und Zurichtungsprozesses, auseinanderzusetzen. Vorkenntnisse werden dabei nicht vorausgesetzt, weshalb wir uns also umso mehr freuen, wenn möglichst viele Menschen, die bisher noch keine Berührungspunkte mit Freuds Schriften oder der Theorie der Psychoanalyse hatten, teilnehmen, mit uns lesen und diskutieren wollen.

Es wird euch ein Reader vorab zur Verfügung gestellt, in dem ihr „Das Unbehagen in der Kultur“, wichtige Begriffserklärungen und ergänzendes Textmaterial findet. Die Vorbedingung zur Teilnahme an dem Lektüreseminar ist, „Das Unbehagen in der Kultur“ gelesen zu haben. Alle zusätzlichen Texte im Reader könnt ihr nach Lust und Laune lesen oder ignorieren.

Das Seminar ist kostenlos, der Kaffee auch, Mittagessen in gemeinsamer Runde und irgendwo in der Nähe muss leider jede*r selbst bezahlen. Die Teilnehmer*innenzahl ist auf 20 begrenzt. Meldet euch bitte bis zum 31.10.23 an unter: freudsunbehagen@gmx.de


Veranstaltungsort: Meuterei, Zollschuppenstraße 1, Leipzig

4.11.2023 11:00-18:00 Uhr (1,5h Mittagspause)

5.11.2023 11:00-15:00 Uhr (1h Mittagspause)

Kommende Veranstaltungen

Die Veranstaltung  „Kritische Theorie & Psychoanalyse“ muss leider von Oktober 2023 vorausichtlich auf Frühjahr 2024 verschoben werden.

Es  geht mit der Veranstaltungsreihe am 04. & 05.11.2023 weiter mit dem Wochenendseminar zu Freuds Unbehagen in der Kultur.

Weitere Informationen folgen in Kürze.

Kritisches Denken und Autonome Politik

Kritisches Denken und autonome Politik

Die Probleme der Gesellschaft, die wir hier bei uns – aber auch weltweit – beobachten können, nehmen nicht ab. Im Gegenteil, sie scheinen sich im Verlauf der Zeit weiter zuzuspitzen. Die Welt brennt – und das nicht nur im sprichwörtlichen Sinne. Dies bringt zwei Effekte mit sich: Auf der einen Seite wächst der Impuls, etwas zu unternehmen, etwas zu bewirken, was der Zerstörung Einhalt gebietet, auf der anderen Seite aber wächst der Impuls, sich abzulenken, sogar passiv zu werden, weil die Probleme zu zahlreich und zugleich zu überwältigend sind. Die Energie zur Veränderung wird vom großen Ganzen abgezogen und auf das Naheliegende und Kleine gewendet, gerne mit der Begründung, dass auch die kleinen Dinge wichtig sind. So viel da auch dran sein mag, bleiben die großen Probleme bestehen und die Gefahren, die von ihnen ausgehen, wachsen. Sich ihnen zu stellen, ist für diejenigen, die etwas verändern wollen, unumgänglich.

Sich Problemen zu stellen, ist aber nicht nur in Anbetracht der Schwierigkeit, etwas zu verändern, ein verzwicktes Unterfangen. Denn was ist es denn genau, was verändert werden muss, was sind denn die wesentlichen Zusammenhänge, die das Elend der Welt produzieren und wieso sind diese so schwierig zu erkennen und erst recht zu verändern? Wie schützen sich die Zusammenhänge gegen Veränderung, schotten sich ab? Für eine engagierte und nachhaltige Praxis bedarf es theoretischer Orientierung, damit das Handeln, wenn es ohnehin schon so schwierig ist, zumindest ein bedeutsames Ziel hat und somit in die richtige Richtung geht. Es muss zudem eine Theorie sein, die nicht nur einzelne Aspekte, sondern die Gesellschaft in ihrer gesamten Struktur zu erfassen versucht sowie auch die Probleme und Widersprüche, die sich aus ihr ergeben, reflektiert.

Eine Richtung des Denkens, die eine solche Absicht verfolgt, ist die Kritische Theorie. Die Kritische Theorie wendet sich gegen das traditionelle und konventionelle Denken, zielt auf gesellschaftliche Veränderung, nimmt die herrschenden Machtstrukturen und Ideologien in den Fokus, versucht die Mechanismen aufzudecken, mit denen sich die gesellschaftlichen Machtstrukturen vor Veränderung schützen und ebenso, weshalb sich so viele mit dem Leben, dass ihnen zugedacht ist, zufrieden geben.

Der Ansatz der Kritischen Theorie hatte seine Hochphase in der Zeit der Student:innenbewegung in den 1960er Jahren und wurde in dieser Zeit insbesondere rezipiert, auch kritisiert und hatte einen nicht unbedeutenden Impact auf die Gesellschaft. In der Folge wurde sie jedoch ins Regal verbannt und mit einer Aura des Unverständlichen, Unzugänglichen und damit auch Unzulänglichen umgeben und kaltgestellt. In den Bereichen der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften wurde sie durch andere Theorien ersetzt und verdrängt, die viel weniger eine Kritik formulieren am Gesamtzustand, sondern die sich wesentlich daran orientieren, einzelne Aspekte der bestehenden Gesellschaft zu beleuchten und schauen, ob diese dem Anspruch, den die Gesellschaft an sich selbst hat, Rechnung tragen. Einen umfassenden Begriff der Gesellschafft gibt es kaum noch, er ist vielmehr verschüttet. Damit ist das Potential der Veränderung aber begrenzt auf Veränderungen innerhalb der Gesellschaft und nicht mehr darauf ausgerichtet, die Gesellschaft im Ganzen zu verstehen zu wollen, um sie zu kritisieren, nachhaltig anzugreifen und durch eine neue und fortschrittlichere Gesellschaft zu ersetzen. Auch in den Kreisen derer, die eine andere Welt wollen, ist die Kritische Theorie zum angestaubten Theorieklotz degeneriert, obwohl sie von ihren Ansätzen und Analysen die falsche Gesellschaft in ihrer ganzen Hässlichkeit sichtbar und verstehbar werden lässt.

Um einen Einstieg in die Kritische Theorie zu erleichtern, wollen wir mit einer Veranstaltungsreihe einzelne Aspekte herausgreifen und dem aktuellen Denken und Handeln wieder verfügbar machen. Dazu holen wir den im Rahmen unserer letzten Veranstaltungsreihe ausgefallen Vortrag zur Negativen Dialektik nach. Desweiteren befassen uns mit den Positionen der Kritischen Theorie zur Psychoanalyse und vertiefen diesen Ansatz mit einem Wochenendseminar zum Thema Psychoanalyse und Kulturkritik.

 

Einführung in die Dialektik

Kritisches Denken und autonome Politik

Klimawandel, die Situation an den EU-Außengrenzen, Verdrängung, Ausbeutung, Krieg; Probleme gibt es genug – und damit auch mehr als genug Gründe gegen diejenigen zu stellen, die dafür die Verantwortung tragen. Aber: Das Problem sind nicht nur einzelne Politiker:innen, sondern das Problem ist der Staat, in der die Einzelnen ihre Position einnehmen. Das bedeutet, dass nicht einzelne schlechte Politiker:innen bekämpft werden müssen, sondern das System. An die Stelle des Bestehenden muss etwas Neues treten und es gibt einige Bewegungen, die hierfür kämpfen.

Eine der Bewegungen, die sich für eine gute Zukunft für Alle und ein freies und selbstbestimmtes Leben einsetzt, sind die „Autonomen“. In ihren sehr unterschiedlichen Ausprägungen eint unsere Bewegung, dass sie sich unabhängig von bürgerlichen Parteien, sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften oder anderen dogmatischen Gruppierungen organisiert. Die zukünftig angestrebte Autonomie wird also schon im Organisationsansatz versucht vorwegzunehmen und folgt der Einsicht, dass sich eben jene Struktur, die es zu bekämpfen gilt, in Parteien, Gewerkschaften und ähnliche Gruppierungen hinein fortsetzt. Sie sind damit für unsere Kämpfe ganz ungeeignet, denn sie tragen in sich das Problem, dass sie vor allem dafür taugen, dass falsche Bestehende zu modernisieren und immer weiter fortzusetzen. Außerdem stehen diese Gruppierungen immer auf der Seite des Erlaubten und Konformen. Es ist jedoch abwegig, dass sich gegen das falsche Bestehende kämpfen, dass sich eine grundsätzliche Veränderung erwirken lässt, wenn wir unser Handeln am Erlaubten orientieren und mit dem Bestehenden konform gehen. Autonomie, dass heißt, dass wir unser Handeln nicht am Bestehenden und nicht am Erlaubten, sondern an uns selbst und unserem Wunsch nach Freiheit und einem guten Leben für Alle ausrichten.

Doch autonomes Handeln ist schwieriger umzusetzen, als es sich postulieren lässt. Gegen Konventionen, Regeln oder auch Gesetze zu verstoßen, ist nicht immer leicht, auch wenn es geboten ist. Und auch wenn es gelingt, heißt es nicht, dass es auf die Weise gelingt, wie es wünschenswert wäre. Überhaupt: aus Regelverstößen und gesetzeswidrigem Verhalten lässt sich keine allgemein gültige Formel ableiten, die fester Orientierungspunkt für autonomes Handeln sein könnte. Autonomes Handeln ist vielmehr etwas, dass sich erst durch eigene Praxis und deren Reflexion ergibt.

Analog hierzu verhält es sich mit autonomen Denken. Es ist mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert wie die autonome Praxis. Denn so wie das falsche Bestehende und die dazu gehörende Struktur erstarrt und verhärtet ist, wodurch das Leben der Menschen auf ein So-und-nicht-Anders festgelegt wird, ist in dieser gesellschaftlichen Struktur auch das Denken erstarrt und verhärtet. Dieses Denken legt ebenso fest, was gedacht werden darf und was nicht. Das betrifft zum einen die Inhalte des Denkens: Gesellschaftlich wird festgelegt, welche Themen behandelt werden und was für Positionen dazu akzeptabel sind. Es trifft zum anderen aber auch Festlegungen darüber, welche Formen und Ziele des Denkens abgelehnt werden und welche nicht.

Es ist nicht nur die politische Praxis, welche durch Einschränkungen in der Anpassung erstarrt. Sondern eben auch das Denken, welches in Form und Inhalt so organisiert ist, dass das Bestehende erhalten und gegen grundsätzliche Veränderungen abgedichtet wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine „Updates“ gibt und eine erstarrte Theorie und Praxis an ihr Ende gekommen wäre. Ganz im Gegenteil: Gerade um sich selbst zu erhalten, muss sich das Bestehende immer und immer wieder aktualisieren, und andererseits müssen Denkformen und Denkinhalte, die „gefährlich“ sind, aufgeweicht oder aussortiert werden. Einer autonomen Bewegung stellt sich also auch die Frage, wie sich im Denken orientiert werden kann. Autonomie heißt also, dass wir unser nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Denken nicht am Bestehenden und nicht am Erlaubten, sondern an uns selbst und unserem Wunsch nach Freiheit und einem guten Leben für Alle ausrichten.

So wie es in der jüngeren Geschichte zum Beispiel viele Auseinandersetzungen um die Akzeptanz und Sinnhaftigkeit der Illegalität im politischen Handeln gab, so wurde auch um die Konformität im Denken gerungen. Eine besonders folgenschwere Entwicklung in Bezug auf die Diskussion über richtige und falsche Denkformen und -inhalte fand ihren Ausdruck schließlich im sogenannten Positivismusstreit der 1960er Jahren. Und es wäre gar nichts dabei gewesen, wenn es sich hierbei nur um einen akademischen Streit im Elfenbeinturm in Wolkenkuckucksheim gehandelt hätte. Aber die Folgen des Positivismusstreits entfalteten sich in alle Bereiche der Gesellschaft. Da es sich um einen schleichenden Prozess handelte, der nicht unbedingt die Titelseiten der Tageszeitungen und Nachrichtensendungen ansprach, blieb diese umfassende Entfaltung eines sogenannten positivistischen Denkens nicht als ein Wendepunkt oder Bruch in Erinnerung. Dennoch sind die Folgen bis heute deutlich spürbar.

Was aber war der Positivismusstreit, welche Debatten mündeten in ihm und warum sollte diesem Streit auch aus einer autonomen Perspektive eine besondere Bedeutung beigemessen werden?

Im Grunde genommen ging es hier um einen Streit in den Sozialwissenschaften, also denjenigen Forschungsfeldern, die sich mit dem Menschen und seinem Zusammenleben beschäftigen. Es ging um die Frage, nach welchen Methoden die Sozialwissenschaften, als Wissenschaften von der Gesellschaft, zu betreiben seien. In der ersten Hälfte des 19. Jh. entwickelte sich die Soziologie so beispielsweise im Gedanken an eine soziale Physik. Im Zuge und Rausch des Fortschritts in den exakten Naturwissenschaften und damit einhergehenden technisch-industriellen Entwicklungen, setzte sich ein Denken durch, nach welchem Sozialwissenschaften im weitesten Sinne nach den Methoden der Naturwissenschaften zu betreiben seien. Das mag plausibel klingen, allerdings gibt es grundlegende Unterschiede zu den Naturwissenschaften: Zum einen sind die gesellschaftlichen Verhältnisse eben menschengemacht und deswegen gerade kein Naturverhältnis. Sie folgen keinen ahistorischen Gesetzmäßigkeiten, sondern sind vielmehr historisch gewachsene Strukturen.

Dass etwa, um ein einfaches Beispiel zu nehmen, Menschen aus wohlhabenden Haushalten bessere Schulabschlüsse machen als Menschen aus armen Haushalten, ist keine natürliche Begebenheit, sondern die Folge der falschen Verhältnisse und für diese ist der Mensch verantwortlich. Zum anderen gibt es gesellschaftlich keine so starren Gesetzmäßigkeiten, wie sie in der Natur vorherrschen. So existieren etwa in allen Gesellschaften der Erde unterschiedliche Gesetze, aber die Naturgesetze sind immer die Gleichen; der Mensch macht sich seine Gesetze selbst. Die Frage nach dem „Warum“ hinter Erscheinungen wie der ungleichen Verteilung des Wohlstandes und der Existenz verschiedener Rechtssysteme ist jedoch für eine naturwissenschaftliche Methode, die nur erfassen und so genau wie möglich darstellen will, nicht von Belang.

Die Naturwissenschaft operiert auf der Grundlage von äußeren Naturgesetzen, deren Auswirkungen und Zusammenhänge ergründet werden können. Allerdings folgt die Gesellschaft als Forschungs- und Erkenntnisfeld keinen ebenso einsehbaren, äußeren Naturgesetzen. Vielmehr kann es gerade als die Aufgabe der Geisteswissenschaften begriffen werden, diese gesellschaftlichen Entwicklungen oder die hinter den bloßen Erscheinungen liegende „Totalität“ kritisch zu ergründen um ihre Naturhaftigkeit so zu bestreiten und zu widerlegen. Ziel wäre dann, um beim ersten Beispiel zu bleiben, zu verstehen, warum der Wohlstand ungleich verteilt ist und eine Gesellschaft anzustreben, in der dies nicht so ist, anstatt lediglich zu erfassen, wie der Wohlstand verteilt ist und wenn überhaupt noch zu ergründen wie dieser technisch gut verteilt werden könnte. In dieser Unterscheidung werden zwei grundlegend unterschiedliche Denkformen über die bürgerliche Gesellschaft erkennbar. Neben einer kritischen Gesellschaftswissenschaft, welche nicht bloß beschreibt, sondern in der Tradition der großen Fragen nach Autonomie, Glück und Freiheit versucht zu verstehen, wie die Gesellschaft aufgebaut ist, warum sie so ist, wie sie ist und was daran falsch ist, hat sich zunehmend eine positivistisch genannte Theorie der Gesellschaft durchgesetzt. Diese begnügt sich damit zu beobachten und zu messen, um dann entsprechend der naturwissenschaftlichen Methode quantitative Ergebnisse wie detaillierte Wohlstandsberichte zu liefern, die sich an der messbaren Oberfläche des Bestehenden orientieren und dabei an diese anpassen. Dabei gelten die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Positivismus als unerkennbar oder natürlich. Die positivistische Gesellschaftswissenschaft ist dann absurderweise eine, die keinen Begriff von der Gesellschaft hat.

Es ist zu erkennen, dass sich spätestens seit dem Positivismusstreit der 1960er Jahre in den Sozialwissenschaften, zu denen früher eben auch zahlreiche Schriften der kommunistischen und anarchistischen Bewegung gehörten, das positivistische, konformistische Denken und Verfahren durchgesetzt hat. Im Zuge des Positivismusstreits wurde sich wissenschaftlich so zugleich einer ganzen Reihe von ganz grundsätzlich gesellschaftskritischen Positionen entledigt. Da viele linksradikale Überlegungen und Kritiken nicht messbar sind, sondern die Grundlagen des vermeintlich Messbaren ergründen und über das Bestehende reflektieren wollen, wurden sie ins Reich der Fantasie und Literatur verbannt und damit als gesellschaftlich irrelevant gebrandmarkt. Die Folgen dürften allen bekannt sein: Wer etwa bei einer Familienfeier mal mit jemandem über grundsätzlich andere Gesellschaftsformen reden will, die ohne unsinnigen Arbeits- und ökonomischen Zwang auskommen oder nicht den Wettbewerb als Allheilmittel sehen, der dürfte das im besten Fall noch milde Lächeln kennen, mit dem die Unsinnigkeit des Gesagten dann abgetan wird.

Alles in allem ist das positivistische Denken das Denken, das zu den erstarrten bestehenden Verhältnissen passt. Es ist selber starr und verhärtet und feiert sich als rational und neutral, weil es sich an die naturwissenschaftlichen Methoden klammert. Ein Denken, dass den Menschen zum Ding, zum Naturgegenstand degradiert und ebenso die gesellschaftlichen Verhältnisse als ein Verhältnis zwischen Dingen betrachtet. Ein positivistisches Denken der Gesellschaft ist dann nicht mehr als Technokratie im Mantel der Wissenschaft.

Welchem Denken sich in dieser Zeit und ausgedrückt eben im Positivismusstreit entledigt wurde, lässt sich besonders am dialektische Denken aufzeigen. Zwar gab es gegen das dialektische Denken auch eine Reihe anderer Angriffe, was dann seine heutige Bedeutungslosigkeit zur Folge hatte; zudem ist es auch schon ohne äußere Anfeindung schwer zugänglich. Aber es befindet sich zum positivistischen Denken im größten Widerspruch. Damit ist schon etwas wesentliches über das dialektische Denken gesagt, denn überhaupt ist es ein Denken in Widersprüchen. Und dies nicht, weil Widerspruch so etwas Schönes ist, sondern weil die Welt, also das, worüber wir nachdenken, gar nicht eindeutig und abschließend fest bestimmbar oder messbar, sondern selbst widersprüchlich und durch die Zeit hindurch veränderlich ist. Um sich über die Welt Rechenschaft abzulegen und sich im Denken orientieren zu können, muss dieses (Nach-)Denken eine dementsprechende Form haben. Das haben wohl alle schon auf alltägliche Weise erlebt oder verspürt: Wenn etwa zwei Personen im Streit miteinander sind und wir hören uns erst die eine und dann die andere Position an, so können wir leicht beide Positionen nachvollziehbar finden und auch in sich „richtig“, aber sie stehen in einem unvermittelbaren Widerspruch zueinander. Es mag so scheinen als hätten beide irgendwie recht, oder eben keiner, und trotzdem behalten beide Positionen ihr eigenes „Recht“. Das dialektische Denken ist das Denken, dass beiden ihren Berechtigung lässt, ohne einem Recht zu geben; es ist das Denken, welches die Widersprüche aushalten und die Bewegung, die sich aus dem Widerspruch entfaltet, nachzeichnen kann.

Für eine Veränderung der Welt ist es wesentlich, die Welt zu verstehen und zwar so weit wie irgend möglich; das bedeutet aber ganz zentral, dass wir über Widersprüche nicht hinweggehen dürfen, denn damit würden wir versuchen, uns eine Welt zu denken, wie sie uns passt und eben nicht wie sie ist. Wer eine Welt so denken will, wie sie einem eben passt, der tritt aber immer auch in ein autoritäres Verhältnis gegenüber der Welt ein und wird damit viel mehr der Welt und dem Leben auf der Welt Unrecht tun, als dass er zur Befreiung etwas beiträgt. Das bedeutet eben auch: Damit unsere Angriffe im Kampf um eine freie Welt treffen, damit unsere Kämpfe keine Spiegelfechterei sind, müssen wir uns auch gegen das verhärtete und ein das Falsche beschützende Denken wenden. Autonomie ist auch ein Kampf um die Autonomie im Denken.

Wir wollen hierzu einen Beitrag leisten und uns deswegen gemeinsam mit der Dialektik als Denkform auseinandersetzen. Nicht nur, jedoch auch im Gegensatz zu seinem positivistischen Konterpart. Hierzu möchten wir zuerst einmal besondere Stationen der Geschichte des dialektischen Denkens nachvollziehen. Mit einem Einblick in ihr Werk möchten wir versuchen die Dialektik bei Hegel, Marx und Adorno nachzuvollziehen. Drei Autoren, die nicht nur einfach sehr prominent sind, sondern deren Denken auch das Leben von Millionen Menschen direkt oder indirekt mitgeprägt hat. Am Ende möchten wir dann noch in einem vierten Vortrag den Positivismusstreit genauer betrachten und sowohl die Entwicklungen zu, als auch die Folgen dieser Auseinandersetzung nachvollziehen.

Kritisches Denken und Autonome Politik