Ankündigungstext

Kritisches Denken und autonome Politik

Die Probleme der Gesellschaft, die wir hier bei uns – aber auch weltweit – beobachten können, nehmen nicht ab. Im Gegenteil, sie scheinen sich im Verlauf der Zeit weiter zuzuspitzen. Die Welt brennt – und das nicht nur im sprichwörtlichen Sinne. Dies bringt zwei Effekte mit sich: Auf der einen Seite wächst der Impuls, etwas zu unternehmen, etwas zu bewirken, was der Zerstörung Einhalt gebietet, auf der anderen Seite aber wächst der Impuls, sich abzulenken, sogar passiv zu werden, weil die Probleme zu zahlreich und zugleich zu überwältigend sind. Die Energie zur Veränderung wird vom großen Ganzen abgezogen und auf das Naheliegende und Kleine gewendet, gerne mit der Begründung, dass auch die kleinen Dinge wichtig sind. So viel da auch dran sein mag, bleiben die großen Probleme bestehen und die Gefahren, die von ihnen ausgehen, wachsen. Sich ihnen zu stellen, ist für diejenigen, die etwas verändern wollen, unumgänglich.

Sich Problemen zu stellen, ist aber nicht nur in Anbetracht der Schwierigkeit, etwas zu verändern, ein verzwicktes Unterfangen. Denn was ist es denn genau, was verändert werden muss, was sind denn die wesentlichen Zusammenhänge, die das Elend der Welt produzieren und wieso sind diese so schwierig zu erkennen und erst recht zu verändern? Wie schützen sich die Zusammenhänge gegen Veränderung, schotten sich ab? Für eine engagierte und nachhaltige Praxis bedarf es theoretischer Orientierung, damit das Handeln, wenn es ohnehin schon so schwierig ist, zumindest ein bedeutsames Ziel hat und somit in die richtige Richtung geht. Es muss zudem eine Theorie sein, die nicht nur einzelne Aspekte, sondern die Gesellschaft in ihrer gesamten Struktur zu erfassen versucht sowie auch die Probleme und Widersprüche, die sich aus ihr ergeben, reflektiert.

Eine Richtung des Denkens, die eine solche Absicht verfolgt, ist die Kritische Theorie. Die Kritische Theorie wendet sich gegen das traditionelle und konventionelle Denken, zielt auf gesellschaftliche Veränderung, nimmt die herrschenden Machtstrukturen und Ideologien in den Fokus, versucht die Mechanismen aufzudecken, mit denen sich die gesellschaftlichen Machtstrukturen vor Veränderung schützen und ebenso, weshalb sich so viele mit dem Leben, dass ihnen zugedacht ist, zufrieden geben.

Der Ansatz der Kritischen Theorie hatte seine Hochphase in der Zeit der Student:innenbewegung in den 1960er Jahren und wurde in dieser Zeit insbesondere rezipiert, auch kritisiert und hatte einen nicht unbedeutenden Impact auf die Gesellschaft. In der Folge wurde sie jedoch ins Regal verbannt und mit einer Aura des Unverständlichen, Unzugänglichen und damit auch Unzulänglichen umgeben und kaltgestellt. In den Bereichen der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften wurde sie durch andere Theorien ersetzt und verdrängt, die viel weniger eine Kritik formulieren am Gesamtzustand, sondern die sich wesentlich daran orientieren, einzelne Aspekte der bestehenden Gesellschaft zu beleuchten und schauen, ob diese dem Anspruch, den die Gesellschaft an sich selbst hat, Rechnung tragen. Einen umfassenden Begriff der Gesellschafft gibt es kaum noch, er ist vielmehr verschüttet. Damit ist das Potential der Veränderung aber begrenzt auf Veränderungen innerhalb der Gesellschaft und nicht mehr darauf ausgerichtet, die Gesellschaft im Ganzen zu verstehen zu wollen, um sie zu kritisieren, nachhaltig anzugreifen und durch eine neue und fortschrittlichere Gesellschaft zu ersetzen. Auch in den Kreisen derer, die eine andere Welt wollen, ist die Kritische Theorie zum angestaubten Theorieklotz degeneriert, obwohl sie von ihren Ansätzen und Analysen die falsche Gesellschaft in ihrer ganzen Hässlichkeit sichtbar und verstehbar werden lässt.

Um einen Einstieg in die Kritische Theorie zu erleichtern, wollen wir mit einer Veranstaltungsreihe einzelne Aspekte herausgreifen und dem aktuellen Denken und Handeln wieder verfügbar machen. Dazu holen wir den im Rahmen unserer letzten Veranstaltungsreihe ausgefallen Vortrag zur Negativen Dialektik nach. Desweiteren befassen uns mit den Positionen der Kritischen Theorie zur Psychoanalyse und vertiefen diesen Ansatz mit einem Wochenendseminar zum Thema Psychoanalyse und Kulturkritik.

 

Kritisches Denken und Autonome Politik